30. Sonntag im Lesejahr B - Mk 10,46-52
Einladen möchte ich Sie heute.
Einladen, in diese Geschichte
einzutreten, sich den Schauplatz
vor Augen zu führen, an dem
sich all das zuträgt, von dem
das Evangelium erzählt.
Möglicherweise hilft es Ihnen,
dazu Ihre Augen zu schließen.
Möglicherweise aber auch nicht,
dann verbleiben Sie so, wie
es Ihnen gerade gut tut.
Jesus verlässt die Stadt Jericho.
Mit ihm auf den Weg machen
sich seine Jünger und weitere
Menschen.
Gerettete.
Gesundgewordene
oder einfach nur
neugierige Menschen.
Pharisäer, Schriftgelehrte,
Gesetzeslehrer.
Ich lade Sie ein, mit diesen
Menschen zu gehen und
sie zu sehen.
Die Menschengruppe und
Sie erreichen das Stadttor.
Viele drängen sich
dort hindurch. Die Einen, um
die Stadt zu verlassen, die anderen
um ihre Geschäfte in der Stadt
zu erledigen.
Plötzlich ein Schrei, ein Schrei,
der aufhorchen lässt, der durch
Mark und Bein geht: „Sohn Davids,
Jesus, hab Erbarmen mit mir.“
Was, meinen Sie, denken
sich die anderen Menschen, die
dabeistehen?
Was denkt ein Pharisäer?
Was denkt ein Schriftgelehrter?
Was denkt ein Gesetzeslehrer?
Was denkt ein Jünger Jesu?
„Viele wurden ärgerlich
und befahlen ihm zu schweigen.“
Sie hören den Ruf und Sie
sehen den Mann, der Jesus
meint und ihn um Erbarmen
bittet.
Mit Jesus gehen Sie auf
zunächst ein Stück auf den Mann zu.
Sie sehen ihn am Boden sitzen.
Sie sehen seine Augen verbunden.
Sie sehen die Kleider, die er am Leib
trägt. Sie riechen den Mann.
Und sie denken bei
sich – ja, was denken Sie
eigentlich?
Jesus lässt den Mann zu sich
bringen. Jetzt steht er vor ihm –
und Ihnen. Was nehmen Sie
wahr? Vor allem anderen:
Der Mann ist blind.
Möglicherweise von Geburt
an. Möglicherweise blind geworden
durch eine Krankheit. Wie auch
immer?
Ist es nicht vielmehr so,
dass das Schicksal zumeist
ungefragt in das Leben eines
Menschen tritt? Es fragt einen
nicht, ob es kommen kann.
Es überwältigt einen Menschen
und stellt ihn sehr oft vor vollendete
Tatsachen. Und der Mensch
versucht das Beste daraus zu
machen. Damit fertig zu werden
oder auch nicht. Es gibt viele,
die zerbrechen an ihrem
Schicksal.
Andere hoffen auf ein
Wunder. Auf Erlösung.
Auf Befreiung.
„Hab Mut, steh auf,
Jesus ruft dich.“ Schon diese
Worte kommen einem Wunder
gleich. Haben Sie selbst schon
einmal den Ruf Jesu vernehmen können?
Und wenn ja, was hat dieser Ruf
in Ihnen selbst bewirkt?
„Komm, her zu mir!“
Haben Sie alles stehen
und liegen gelassen, sind losgegangen,
auf Jesus zu? Der Blinde jedenfalls
springt auf, wirft den Mantel
weg und läuft zu Jesus hin.
Vergessen Sie nicht.
Sie stehen immer noch mit
dabei, vor den Toren Jerichos
und sie bekommen all das
zu sehen und zu hören.
Was regt sich gerade in
Ihnen? Gibt es ein spontanes
Gefühl, das sich zeigt?
Freude,
Trauer,
Dank,
Wut.
Bitte.
Das Schicksal hat den Mann
nicht gefragt, ob er es denn
annehmen will. Aber Jesus,
er fragt zunächst nach:
„Was soll ich dir tun?“
Das ist eine sehr
menschenfreundliche
und achtende Haltung.
Jesus überschüttet den Mann
nicht mit einer Fülle von
Angeboten. Er meint
nicht, dass ihm dies
oder das jetzt gut
tun würde. Nein:
Jesus fragt nach.
Es geht ihm darum,
was der Mensch
vor ihm braucht.
„Sag, was
brauchst du, damit es
Dir wieder besser
geht, damit Du leben
und bestehen kannst?“
Möglicherweise
will der Mann gar nicht,
dass ihn Jesus wieder sehend
macht. Möglicherweise
will er ja etwas ganz
anderes. Nun gut, der
Mann will wieder sehen
können. Das konnte Jesus
aber nur erfahren, nachdem er ihn
gefragt hatte, was er denn will.
Alles andere wäre nur
aufdringlich und respektlos
gewesen.
Das Lied der Liebe
Du bist einsam und ich auch.
Du hast Sehnsucht, so wie ich.
Und wir warten, ob ein anderer
kommt, hocken da in unserem
Schneckenhaus. Und es ändert sich
so gar nichts auf der Welt und
für uns. Denn es fehlt die Liebe.
Erst wenn einer Liebe schenkt
nicht mit Worten, in der Tat,
wenn er fragt:
Was fehlt dem anderen
bloß? Wenn er fragt: Was kann ich
für dich tun? …
ja, erst dann beginnt das
Lied der Liebe.“ Hermann Coenen
Wo stehen Sie gerade?
Welches Bild sehen Sie
vor ihrem inneren Auge?
Welches Wort klingt in Ihnen
nach?
Es ist wichtig, einen Raum
zu schaffen, in dem sich unsere
Wünsche formulieren können.
Es ist wichtig, anderen diesen
Raum zuzugestehen.
Gott schenkt uns diesen Raum.
Heilung geschieht nicht,
weil er ohnehin alles weiß.
Gott will mit unserer
Sehnsucht in Berührung
kommen.
Was hätten Sie Jesus
zur Antwort gegeben?