Wie oft meinen
wir, einen anderen Menschen
wirklich zu kennen?
Und wie oft sind
wir dann von diesem Menschen
überrascht, wenn er sich
von einer Seite
zeigt, die wir so an
ihm noch nie
kennenlernen
durften?
»Was tun Sie«,
wurde Herr K. gefragt,
»wenn Sie einen Menschen lieben?«
»Ich mache einen Entwurf von ihm«,
sagte Herr K., »und sorge,
dass er ihm ähnlich wird.«
»Wer? Der Entwurf?«
»Nein«, sagte Herr K.,
»der Mensch.«
Für jene, die der
Versuchung unterliegen,
einen anderen Menschen auf ein
bestimmtes Bild hin
festzulegen und entsprechend
in einen Rahmen zu passen
oder in eine Schublade zu
stecken, ist die Tatsache,
dass der andere Mensch,
eben immer mehr ist als das Bild,
das sie sich von ihm gemacht
haben, nicht immer eine
angenehme Überraschung.
Manchmal kann diese
Erfahrung eine ganze Welt
zum Einsturz bringen. –
Diese dann wieder zu ordnen
und die neu erkannte
Wahrheit über einen
anderen Menschen
darin einzuplanen,
gelingt nicht immer.
Manchmal ist die Enttäuschung
über das neu Entdeckte an einem
anderen Menschen zu groß.
Manchmal will man aber auch
nicht akzeptieren, dass der
andere immer mehr ist,
als er in den eigenen Augen
darstellt.
Das ist nicht nur
herausfordernd für den Betrachter.
Das ist mindestens genauso
problematisch für den Menschen,
der dem Bild und den Erwartungen
eines anderen nicht entspricht.
Wie viele sind dadurch
in die Not gekommen, ihr
eigentliches Ich verstecken zu
müssen, es nicht akzeptieren,
anzunehmen, leben zu
können?
Auf diese Weise ist
sehr viel Leid unter Menschen
und in deren Beziehungen
zu anderen entstanden.
Ich erinnere mich an
die junge Frau, die ihr
ganzes Leben, ihre
Homosexualität ihrer
Familie und vermeintlichen
Freunden gegenüber
versteckt halten
musste, weil sie
immerzu darum bemüht
gewesen war, den Vorstellungen
ihrer Eltern, Freunde und
auch beruflichen Umwelt
zu entsprechen.
Oder an einen jungen
Mann, der ungewollt in
die Fußstapfen seines Vaters
getreten ist, obwohl seine
Ambitionen ganz andere
gewesen sind. - An dem
Tag, an dem ich ihm
zum ersten Mal begegnet
bin, steckte er in einer
tiefen Depression.
Von Ulrich Schaffer stammt
ein sehr ermutigender
Gedanke, den ich an dieser
Stelle gerne zitieren will:
„Es ist unser Glück,
dass die Zeit in jeder Sekunde,
in jeder Minute und in jeder
Stunde eine neue ist.
Sie wiederholt sich nicht,
nichts wiederholt sich.
Jeder Moment ist ein
Neubeginn – ein Augenblick
der Entscheidung.
Es ist nicht zu spät,
aus Überzeugung zu
leben, anstatt in Routine.
Immer ist die richtige Zeit,
neu geboren zu werden.“
Rabbi Sussja soll kurz
vor seinem Tod geäußert
haben: „In der kommenden
Welt wird man mich nicht
fragen, warum bist du
nicht Mose gewesen,
man wird mich fragen,
warum bist du nicht
Sussja gewesen.“
Ich glaube fest daran,
dass jeder Mensch zur
Vollendung kommen soll
und kommen kann und
Gott uns befähigt hat,
uns zu öffnen wie eine
Schale, in die er seine
Gaben für jeden einzelnen
hineinlegt, so dass jeder aus
den Umständen, unter
denen sein Leben nun
einmal verläuft, etwas
Sinnvolles gestalten
kann.
Genau hierzu macht mir
das heutige Evangelium
Mut. Es fordert mich
heraus, den mir eigenen
Weg zu suchen, zu entdecken,
zu gehen, auch dann, wenn
er nicht jedem zusagen
sollte.
Das muss er auch nicht.
Und das kann er nicht,
wenn ich mich nicht
zum Spielball der
anderen machen
lassen will.
Eines anderen Menschen nicht.
Eines Systems und einer
Organisation nicht.
Auch einer Kirche und
Glaubensgemeinschaft
nicht.
Niemand hat dies so
gut begriffen, wie Jesus
selbst. In seinem Bemühen
der zu sein, der er vor
Gott war, musste
er manchem vor den Kopf
stoßen, insbesondere doch
denen, die ihn zu kennen
glaubten, den Menschen
seiner Heimatstadt.
Aber denen, die ihn
nicht kannten, die noch
offen waren für ihn,
die ihn nicht mit bestimmten
Erwartungen konfrontiert haben,
denen konnte er zum Retter
werden.
Diese Haltung zeichnet
unseren Glauben aus.
Es ist ein offener
und vorbehaltloser
Glauben, mit dem wir
uns unserem Gott nähern
dürfen.
Ein Glaube, der
Gott nicht zwingt, dies
oder das zu tun, sondern
der sich vorbehaltlos ihm
gegenüber verhält und
damit offen ist für die
Wunder, die er an
jedem von uns
vollbringen
will.
Darauf richtet sich
mein ganzes Hoffen
in dieser Zeit und in
dieser Welt. Es ist ein
Hoffen, das den Versuch
miteinschließt, Gott immer
mehr sein zu lassen,
als er sich meinem
beschränkten Blick
erschießt.
Darin liegt ein Segen,
der sich über uns alle
ausbreiten will.
Es wäre ohnehin
fatal, Gott in einem
Bild einschließen
zu wollen.
Das verkehre
die Realitäten. Gott
wäre dann nicht mehr
Gott, sondern unserem
eigenen Ansinnen
ausgeliefert.
»Was tun Sie«,
wurde Herr K. gefragt,
»wenn Sie einen Menschen lieben?«
»Ich mache einen Entwurf von ihm«,
sagte Herr K., »und sorge,
dass er ihm ähnlich wird.«
»Wer? Der Entwurf?«
»Nein«, sagte Herr K.,
»der Mensch.«
Vielleicht ist es höchste Zeit,
das loszulassen, was wir in
Liebe gesammelt haben, die Steine,
die Zuwendung, die Kieferzapfen,
die Erinnerungen, die Federn,
die Knochen, die winzigen
Schätze – es zurückzugeben
an die Erde und uns auszuruhen
in der Leere unseres Lebens,
die offenbleibt für die Veränderungen
und die Wunder, die das Leben
und andere Menschen, ja auch
Gott für uns bereithalten.
Nur so sind wir auch
in der Lage weiterhin zu lieben,
wirklich zu lieben und auch
zu begehren, immerzu,
den anderen, uns selbst,
ja, und auch unseren
Gott.