Jesus eckt an

Jesus eckt an - Lk 4,21-30


Wie oft meinen

wir, einen anderen Menschen

wirklich zu kennen?

Und wie oft sind

wir dann von diesem Menschen

überrascht, wenn er sich

von einer Seite

zeigt, die wir so an

ihm noch nie

kennenlernen

durften?


»Was tun Sie«,

wurde Herr K. gefragt,

»wenn Sie einen Menschen lieben?«

»Ich mache einen Entwurf von ihm«,

sagte Herr K., »und sorge,

dass er ihm ähnlich wird.«

»Wer? Der Entwurf?«

»Nein«, sagte Herr K.,

»der Mensch.«


Für jene, die der

Versuchung unterliegen,

einen anderen Menschen auf ein

bestimmtes Bild hin

festzulegen und entsprechend

in einen Rahmen zu passen

oder in eine Schublade zu

stecken, ist die Tatsache,

dass der andere Mensch,

eben immer mehr ist als das Bild,

das sie sich von ihm gemacht

haben, nicht immer eine

angenehme Überraschung.


Manchmal kann diese

Erfahrung eine ganze Welt

zum Einsturz bringen. –


Diese dann wieder zu ordnen

und die neu erkannte

Wahrheit über einen

anderen Menschen

darin einzuplanen,

gelingt nicht immer.


Manchmal ist die Enttäuschung

über das neu Entdeckte an einem

anderen Menschen zu groß.

Manchmal will man aber auch

nicht akzeptieren, dass der

andere immer mehr ist,

als er in den eigenen Augen

darstellt.


Das ist nicht nur

herausfordernd für den Betrachter.

Das ist mindestens genauso

problematisch für den Menschen,

der dem Bild und den Erwartungen

eines anderen nicht entspricht.


Wie viele sind dadurch

in die Not gekommen, ihr

eigentliches Ich verstecken zu

müssen, es nicht akzeptieren,

anzunehmen, leben zu

können?


Auf diese Weise ist

sehr viel Leid unter Menschen

und in deren Beziehungen

zu anderen entstanden.


Ich erinnere mich an

die junge Frau, die ihr

ganzes Leben, ihre

Homosexualität ihrer

Familie und vermeintlichen

Freunden gegenüber

versteckt halten

musste, weil sie

immerzu darum bemüht

gewesen war, den Vorstellungen

ihrer Eltern, Freunde und

auch beruflichen Umwelt

zu entsprechen.


Oder an einen jungen

Mann, der ungewollt in

die Fußstapfen seines Vaters

getreten ist, obwohl seine

Ambitionen ganz andere

gewesen sind.  - An dem

Tag, an dem ich ihm

zum ersten Mal begegnet

bin, steckte er in einer

tiefen Depression.


Von Ulrich Schaffer stammt

ein sehr ermutigender

Gedanke, den ich an dieser

Stelle gerne zitieren will:


„Es ist unser Glück,

dass die Zeit in jeder Sekunde,

in jeder Minute und in jeder

Stunde eine neue ist.

Sie wiederholt sich nicht,

nichts wiederholt sich.

Jeder Moment ist ein

Neubeginn – ein Augenblick

der Entscheidung.

Es ist nicht zu spät,

aus Überzeugung zu

leben, anstatt in Routine.

Immer ist die richtige Zeit,

neu geboren zu werden.“


Rabbi Sussja soll kurz

vor seinem Tod geäußert

haben: „In der kommenden

Welt wird man mich nicht

fragen, warum bist du

nicht Mose gewesen,

man wird mich fragen,

warum bist du nicht

Sussja gewesen.“


Ich glaube fest daran,

dass jeder Mensch zur

Vollendung kommen soll

und kommen kann und

Gott uns befähigt hat,

uns zu öffnen wie eine

Schale, in die er seine

Gaben für jeden einzelnen

hineinlegt, so dass jeder aus

den Umständen, unter

denen sein Leben nun

einmal verläuft, etwas

Sinnvolles gestalten

kann.


Genau hierzu macht mir

das heutige Evangelium

Mut. Es fordert mich

heraus, den mir eigenen

Weg zu suchen, zu entdecken,

zu gehen, auch dann, wenn

er nicht jedem zusagen

sollte.


Das muss er auch nicht.

Und das kann er nicht,

wenn ich mich nicht

zum Spielball der

anderen machen

lassen will.


Eines anderen Menschen nicht.

Eines Systems und einer

Organisation nicht.

Auch einer Kirche und

Glaubensgemeinschaft

nicht.


Niemand hat dies so

gut begriffen, wie Jesus

selbst. In seinem Bemühen

der zu sein, der er vor

Gott war, musste

er manchem vor den Kopf

stoßen, insbesondere doch

denen, die ihn zu kennen

glaubten, den Menschen

seiner Heimatstadt.


Aber denen, die ihn

nicht kannten, die noch

offen waren für ihn,

die ihn nicht mit bestimmten

Erwartungen konfrontiert haben,

denen konnte er zum Retter

werden.


Diese Haltung zeichnet

unseren Glauben aus.

Es ist ein offener

und vorbehaltloser

Glauben, mit dem wir

uns unserem Gott nähern

dürfen.

 

Ein Glaube, der

Gott nicht zwingt, dies

oder das zu tun, sondern

der sich vorbehaltlos ihm

gegenüber verhält und

damit offen ist für die

Wunder, die er an

jedem von uns

vollbringen

will.


Darauf richtet sich

mein ganzes Hoffen

in dieser Zeit und in

dieser Welt. Es ist ein

Hoffen, das den Versuch

miteinschließt, Gott immer

mehr sein zu lassen,

als er sich meinem

beschränkten Blick

erschießt.

Darin liegt ein Segen,

der sich über uns alle

ausbreiten will.


Es wäre ohnehin

fatal, Gott in einem

Bild einschließen

zu wollen.

Das verkehre

die Realitäten. Gott

wäre dann nicht mehr

Gott, sondern unserem

eigenen Ansinnen

ausgeliefert.


»Was tun Sie«,

wurde Herr K. gefragt,

»wenn Sie einen Menschen lieben?«

»Ich mache einen Entwurf von ihm«,

sagte Herr K., »und sorge,

dass er ihm ähnlich wird.«

»Wer? Der Entwurf?«

»Nein«, sagte Herr K.,

»der Mensch.«


Vielleicht ist es höchste Zeit,

das loszulassen, was wir in

Liebe gesammelt haben, die Steine,

die Zuwendung, die Kieferzapfen,

die Erinnerungen, die Federn,

die Knochen, die winzigen

Schätze – es zurückzugeben

an die Erde und uns auszuruhen

in der Leere unseres Lebens,

die offenbleibt für die Veränderungen

und die Wunder, die das Leben

und andere Menschen, ja auch

Gott für uns bereithalten.


Nur so sind wir auch

in der Lage weiterhin zu lieben,

wirklich zu lieben und auch

zu begehren, immerzu,

den anderen, uns selbst,

ja, und auch unseren

Gott.



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