Herde ohne Hirte - Joh 10,11-18
Das Bild weckt
Emotionen. Gefühle
ganz unterschiedlicher,
wenn nicht sogar
gegensätzlicher
Art.
Ich rufe mir
zunächst einen Psalm
in Erinnerung. Den Psalm
23. Vielen unter uns
ist er vertraut.
Wir beten ihn.
Wir singen ihn.
Wir lassen uns von
ihm in den Dunkelheiten
unseres persönlichen
Lebens gerne ansprechen,
von ihm Mut zusprechen,
beruhigen.
Es entstehen innere
Bilder von Geborgenheit.
Der Psalm scheint eine
Ursehnsucht von uns
Menschen zu befriedigen:
Die Sehnsucht nach
Schutz, nach Behütetsein,
nach Sicherheit.
Lassen Sie einmal
die Worte des Psalms an sich
heran; lassen Sie sich von
ihnen berühren. Spüren Sie
einmal nach, welche
Assoziationen er in
Ihnen wachruft:
„Der Herr ist mein
getreuer Hirt, nichts fehlt
mir, er ist gut.
Weil er mich leitet
und mich führt,
bleib ich in guter
Hut.
Muss ich auch dunkle
Wege gehen, so fürchte
ich mich nicht. Gott will
an meiner Seite stehn.
Er gibt mir Zuversicht.
Auf rechtem Pfade
führst du mich, bist bei
mir Tag und Nacht.
Mein Herr und Hirt,
ich preise dich ob
deines Namens Macht.
Du machst mir einen
Tisch bereit, stärkst mich
mit Brot und Wein.
Durch meines ganzes
Lebens Zeit darf Gast
bei dir ich sein.
Nur Huld und Güte
folgen mir, nichts fehlt
mir, du bist gut.
Weil du mich leitest
für und für, bleib ich
in guter Hut.“
Doch das Bild vom
guten Hirten ist brüchig
geworden. Es greift einfach
nicht mehr. Wer „Hirt“ sagt,
sagt auch „Schaf“. Und wer
möchte in Zeiten der
Emanzipation als solches
vereinnahmt werden?
Möglicherweise gar als
ein dummes Schaf
daherkommen?
Stichworte wie
Herde, Herdentrieb,
Stallgeruch kommen mir
in den Sinn. Vielen stinkt
das zu sehr. Schon viel
zu lange in ihrer Kirche.
Die Zeit des Gängelns
und Bevormundens ist
vorbei. Der Mensch, insbesondere
doch der mündige Christ, setzt
auf ein selbstbestimmtes
Leben, auch im Bereich
des Glaubens.
Damit wir es nicht
falsch verstehen und
die Worte des Evangeliums
in eine Richtung deuten,
in die zu gehen es uns
keineswegs weist:
Die Worte Jesu zielen
darauf ab, dass der Mensch
erwachsen wird, also
eigenverantwortlich zu denken,
zu handeln lernt, erst recht
in Sachen des Glaubens.
Der Hirte, wie ihn das
Evangelium versteht, will
uns Menschen nicht ins Ställchen
setzen oder gar an die Leine
nehmen. Das Gegenteil
ist vielmehr der Fall:
Jesus führt uns ins
Freie. Hier gibt er Halt,
Schutz vor jeder Gefahr.
Vor allem, was uns zum
Wolf werden kann.
Jesus ist nicht an
unserem Fleisch oder
unserer Wolle interessiert.
Es geht ihm um uns
als Menschen.
Er kennt uns.
Er ruft uns mit Namen.
Er steigt uns nach.
Er bleibt uns nah,
auch dann, wenn wir
uns von ihm entfernen.
Er setzt sein Leben
für uns ein.
Darin unterscheidet
er sich von einem
bezahlten Knecht.
Ich frage mich,
ob man dem Bild des
guten Hirten tatsächlich
nichts mehr abgewinnen
kann?
In einer Zeit zunehmender
Individualisierung, Vereinzelung,
Einsamkeit und zugleich dem
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung,
scheint es mir einem grundlegenden
Bedürfnis nach Geborgenheit
zu entsprechen.
Menschen fragen nach.
Sie fragen: Wem kann ich
vertrauen? Wer hat Zeit
für mich? Wer gibt mir Halt?
Bei wem finde ich Obhut?
Diese Fragen entstehen
durch Misstrauen.
Und das wächst.
Gegenüber der Politik.
Gegenüber der Kirche.
Gegenüber Institutionen
grundsätzlich.
Das Evangelium lässt die
vielen Fragenden nicht allein.
Es kennt die Antwort:
Jesus.
Die Frage jedoch bleibt:
Können Menschen
das Bild vom guten Hirten
für sich in Anspruch
nehmen?
Zugegeben, es ist nicht
einfach in einem Atemzug
von Jesus als dem guten
Hirten und von den Hirten
der Kirche zu sprechen.
Jesus ruft jedes einzelne
Tier bei seinem Namen.
Er führt es hinaus.
Trifft das für die
Hirten der Kirche zu?
Die meisten Hirten
kennen ihre Tiere nicht
einmal mehr mit Namen.
Das ist ein einhergehendes Übel
mit der Zusammenlegung
so vieler einzelner Gemeinden
zu einer Großpfarrei.
Wäre das nicht die Stunde,
das Hirtenamt aller getauften
Christen neu zu entdecken?
Dem Bild des Hirten in
Jesu Absicht einen neuen
Inhalt zu geben -
und wenn
ja, welchen?
Möglicherweise, indem
wir als Einzelne und
als Gemeinde
Antworten geben
auf die Sehnsüchte
der Menschen, wie sie
Gisela Baltes ins Wort
bringt:
„Ich brauche einen,
der um mich weiß:
um meine Traurigkeiten,
meine Dunkelheiten,
meine Schuld.
Einen, der
meinen Namen kennt
und dessen Namen
ich kenne.
Ich brauche einen,
der mich versteht:
meine Sorgen,
meine Fragen,
meine Sehnsucht.
Einen,
der mich beim Namen ruft
und den ich rufen kann.
Ich brauche einen,
der für mich da ist,
der mich liebt,
ohne Vorbehalte,
so wie ich bin.
Einen,
der mich nicht im Stich lässt,
bei dem ich sicher bin.“
Wenn´s die Hirten
der Kirche nicht schaffen,
und darauf lässt auch
das unlängst
erschienene vatikanische
Schreiben über die unendliche
Würde des Menschen
schließen, dann müssen
die Christen
ran!
Keine Angst,
damit vertreiben wir
nicht den einen guten
Hirten. Das bleibt er,
Jesus, unwiderrufen.
Aber wir werden
nur so seinem Anliegen
gerecht, einander anzunehmen,
wie er uns angenommen
hat.
Wir werden nur so
unserer Berufung als Christen
gerecht, uns in Christi
Absicht, einander zuzuwenden
und uns um die Welt
zu sorgen, uns ihrer Nöte
anzunehmen.