Stellen sie sich
einen Hirten vor mit
seinen hundert Schafen
im Gebirge;
er zählt sie am Abend
ab und entdeckt,
dass ihm ein Tier fehlt.
Er geht die ganze Wegstrecke
noch einmal zurück, um das
verlorene Tier zu suchen.
Kein wirklicher Hirte in Palästina
würde anders handeln, denn
täte er es, brächte er sich
nach und nach um seine
ganze Herde.
Zu zerklüftet ist das Gebirge,
zu zahlreich sind die Raubtiere,
zu gefahrvoll das Leben der
Schafe und zu kostbar die Herde
dem Hirten.
Jesus setzt voraus, dass jeder
dem hundertsten Schaf nachgehen
und die neunundneunzig zurücklassen
würde.
Und dass ein jeder, das
erschöpfte und verängstigte
Tier auf seine Schultern nehmen
und es voll Freude nach Hause
bringen würde.
Die Geschichte, die Jesus
seinen Widersachern erzählt,
die sich einzig und allein darüber
empören, dass sich Jesus
wieder einmal mit Zöllnern,
Dirnen und Sündern abgibt,
rechtfertigt all das, was
Jesus tut.
Denn das ist seine Absicht:
Gut zu sein, zu denen, die
sonst keine Chance hätten;
den Menschen zu seinem
Glück zu bringen;
der Drangsal,
der Qual,
dem Leid
von Menschen ein
Ende zu bereiten und
Mitleid,
Verständnis,
Menschlichkeit,
Güte und Erbarmen
ihnen gegenüber zu zeigen.
Doch das Bild vom Hirten
und dem verlorenen Schaf,
scheint nicht in unsere Zeit
hineinzupassen.
Es widerspricht all dem,
was viele aus Erfahrung
kennen:
Es gibt Leitlinien der Moral,
des Anstands und der guten
Sitte, nach denen richten
sich jene, die es können
und sie schauen mit Häme
und Schadenfreude auf die
herab und drängen die hinaus,
die an den Satzungen vorbeileben.
Hinaus auch aus den Reihen
der Kirche:
Homosexuelle,
Wiederverheiratete Geschiedene,
moralisch Unkorrekte,
solche, die der Kirche und ihren
Gesetzen durch ihr
Leben widersprechen.
Vermeintlich queere
Menschen.
So ist es mehr als
nur eine große Enttäuschung,
dass es schon am ersten Tag
der vierten Synodalversammlung
in diesen Tagen einen großen Knall gegeben hat.
Die Annahme des Grundtextes
zur Sexualmoral in der Kirche
ist an der Sperrminorität
der Bischöfe gescheitert.
Jesus meint:
Schluss damit.
Habt Mitleid.
Lernt zu verstehen.
Urteilt nicht ab.
Darf nicht jeder Mensch
einen Ort haben, um zu Christus
zu gelangen?
Jesus wollte, dass wir
Gott entdecken als jemanden,
der uns trägt, wenn wir nicht
mehr gehen können, der uns
sucht, wenn wir im Schmutz
verloren sind und der uns
beisteht, wenn wir nicht ein
noch aus wissen.
Deshalb läuft der Hirte
dem Schaf nach.
Deshalb setzt Jesus sich
mit Zöllnern, Dirnen und
Sündern an einen Tisch,
um ihnen zu sagen:
Es gibt keine Grenzen für
Mitmenschlichkeit.
Es gibt kein Limit für
Geschwisterlichkeit.
Es gibt keinen Grenzwert
für Barmherzigkeit.
Die Liebe sprengt
alle Konventionen.
Die größte Freude,
die jeder einzelne und
wir gemeinsam als Kirche unserem
Gott bereiten können,
ist die Freude des hundertsten
Schafes.
Papst Franziskus meint:
„Steht auf; geht hinaus;
schaut auf die, die an den
Rändern stehen;
auf die, die warten,
auf euer Lachen,
auf eure Ermutigung,
auf eure Hand,
auf Christus und
dass ihr sie anseht,
dass ihr sie annimmt,
dass ihr ihnen gut seid
im Namen Christi und
eines Gottes, der ganz
und gar menschenfreundlich
ist und auf den Menschen
bezogen.
Es gibt unter Menschen
nichts Größeres und vor Gott
nichts Schöneres, als wenn
uns dies gelingen sollte.
Jedenfalls sollte die Haltung
einer Barmherzigkeit,
die grenzenlos ist,
unser Herz niemals
verlassen.
Eugen Drewermann
sagt einmal:
„Gut im Sinne der Moral
können wir nur sein,
wenn das Gute gütig ist.
Dann hört es auf, nur
moralisch zu sein,
dann wandelt es sich in ein
Vertrauen, weit wie der Sonnenaufgang
entfernt ist vom -untergang
und der Zenit von der Erde.“
Alles umspannt Gottes Huld
und Güte. Vielleicht kommen
die vermeintlich Korrekten
und die, die sich für moralisch
in Ordnung meinen, selbst an
den Punkt, an dem sie merken,
dass auch sie Gottes Erbarmen
brauchen; dass es überhaupt
keine neunundneunzig richtige
und ein verlorenes Schaf gibt,
sondern nur eine gemeinsame
Menschheit, die auf Rettung
angewiesen bleibt.
In diesem Sinn spricht
ein Gedicht von Rica Friedberg
folgendes aus. Sie hat dabei
die Erzählung vom barmherzigen
Vater und seinen beiden Söhnen im Blick,
die in der Langfassung des heutigen
Evangeliums zu hören gewesen wäre.
Verlorene Söhne
verlorene Töchter
inzwischen ohne Erinnerung
an ihre Herkunft –
wer sagt ihnen
ein Vater wartet auf sie
mit mütterlicher Liebe
noch immer
wird diese Botschaft
übertönt vom strengen Geist
des ältesten Bruders –
obwohl sich der Vater
sehnlichst wünscht
dass auch er sich bekehrt.
Gott will sie alle
und vielleicht gerade die
am meisten, die nie haben
glauben dürfen, seiner
würdig zu sein.