Ist Jesus ein Realist?
Sieht er die Dinge tatsächlich
so, wie sie sind, oder macht
er anderen und sich selbst
etwas vor?
Verdrängt er gar die
Realitäten dieser Welt
und des Menschen?
Von Blauäugigkeit ist
bei ihm keine Spur.
Ganz im Gegenteil.
Er sieht die Dinge,
wie sie sind. Und um diese
steht es nicht immer gut.
Er sieht die Menschen
und weiß, wie es ihnen
geht.
Die Bedürfnisse der anderen
sind ihm vertraut und bestens
bekannt.
Wie sonst könnte
er sich an die Menschen mit
den Worten wenden, wie
wir sie gerade noch gehört
haben?
Mit ihnen trifft der
den Nagel auf den Kopf;
spricht tief im Inneren
der Menschen ihre verborgene
Sehnsucht nach Freiheit
und Frieden, nach Heil
und Ganzsein an.
Jesus weiß, wie die Welt
ist. Er weiß wie das Leben
funktioniert und
dass es immer wieder
an seine Grenzen stößt und
Menschen an den
Widersprüchen und Gegensätzen
dieses Lebens entsetzlich
leiden können.
Arme und Trauernde,
Hungernde und Dürstende,
sind ihm nicht fremd.
Er sieht auf die,
die sich um Gerechtigkeit
und Frieden bemühen
und denen barmherzig
zu sein, am wichtigsten
ist.
Menschen, die um die
Wirklichkeiten dieser Welt wissen,
die an ihnen leiden und sich
trotz allem um eine bessere
Welt bemühen möchten,
sind die Zielgruppe der
Worte Jesu.
Ihnen macht er Mut.
Ihnen schenkt er Zuversicht.
Sie vergewissert er ihrer
Hoffnung und ihres Glaubens
auf etwas vollkommen
Neues und Anderes,
das bereits heute
wahr werden kann,
wo immer Menschen anfangen,
aufeinander zu achten
und füreinander dazu sein
und somit zu einem Beispiel
göttlicher Liebe werden.
Jesus weiß:
Die Welt ist, wie sie ist:
Unvollkommen.
Unzureichend.
Begrenzt.
Notdürftig.
Endlich.
Es gibt keine andere.
Darin macht er sich
und anderen nichts vor.
Schließlich bekommt
er sie selber immer wieder
in ihrer ganzen Härte
und Brutalität
zu spüren.
In allem, mit dem sich
der Mensch umgibt,
was er sich erwirbt
und aneignet, steckt
in der Tat zu wenig, um
wirklich dauerhaft
glücklich und zufrieden
sein zu können.
Es hat etwas
mit geistlicher Armut und
Demut zu tun, wenn Menschen
die Grenzen ihres Lebens
und dieser Welt beginnen
anzuerkennen und sich ihren
Durst und ihren Hunger
nach Unendlichkeit und
Bleibendem
von etwas stillen lassen
möchten, das außerhalb
ihrer eigenen Möglichkeiten
liegt und das Christen als Gott
bezeichnen und glauben.
Richard Rohr, Franziskaner
und Mystiker, sagt:
„In einer Welt, die nur
aus Unvollkommenheit
zu bestehen scheint, haben die
Demütigen und Ehrlichen einen
riesigen Vorsprung in spiritueller
Hinsicht und können Gott
immer in ihrem einfachen
Leben finden.
…
In einer Spiritualität der
Unvollkommenheit haben wir
eine universelle Basis für Gottes
Erlösung der Menschheit und
vielleicht auch eine klare Bezeichnung
für das, woraus uns Gott erlöst.“
Ein Lied, das wir hin und wieder
zum Kyrie singen bringt dieses
„Woraus“ ins Wort:
„Meine enge Grenzen,
meine kurze Sicht, bringe
ich vor dich. Wandle sie in Weite.
Herr, erbarme dich.
Meine ganze Ohnmacht,
was mich beugt und lähmt,
bringe ich vor dich. Wandle
sie in Stärke, Herr, erbarme
dich.
Mein verlorenes Zutraun,
meine Ängstlichkeit, bringe
ich vor dich. Wandle sie in Wärme,
Herr, erbarme dich.
Meine tiefe Sehnsucht
nach Geborgenheit bringe ich
vor dich. Wandle sie in Heimat,
Herr, erbarme dich.“
Wer, wenn nicht
jene, die dürsten nach
Gerechtigkeit und Frieden,
nach Heil und Ganzsein,
nach einem Leben in Fülle,
könnten diese Rufe um Erbarmen
besser verstehen?
Ihnen verheißt Jesus
den neuen Himmel
und die neue Erde.
Einen noch nie dagewesenen
und doch schon immer erahnten
Lohn im Himmelreich.
Einen Lohn, den Gott
schon jetzt begonnen hat
an alle „auszuzahlen“,
die an ihn glauben und sich
an seinen Verheißungen
festmachen möchten;
die sich von ihm angenommen
und geliebt wissen und
diese Liebe in ihrer Wertschätzung
und Annahme eines anderen Menschen
weitergeben und verschenken;
die sich von ihm tragen, halten
und führen lassen wollen und selber
Stütze und Halt für andere sind;
die sich in vielem von den Gesetzmäßigkeiten
dieser Welt zurückgezogen haben
und begonnen haben mit dem Herzen
zu schauen, zu verstehen
und zu handeln.
Denn auch das darf bei
allen Widersprüchen und
Gegensätzen, die diese
Welt kennt und an denen
Menschen immer wieder
zu leiden kommen, nicht
übergangen und in Frage
gestellt werden:
Jene zahllosen Momente
der Schönheit, des Glücks,
der Dankbarkeit und der
Zufriedenheit, des Friedens,
der Erfüllung, des Einsseins,
der Liebe und des Lebens.