Unbekannt ist er
schon lange nicht mehr.
Er ist in aller Munde.
Man redet über ihn.
Und mit Sicherheit
nicht nur Gutes.
In der Langweile des
Tages bietet er genügend
Stoff zum Erzählen, zum
Spekulieren, zum
Mutmaßen, zum
Tratschen.
Und jetzt sollen sie
ihn zum ersten Mal
selbst erleben, Jesus.
Es treibt ihn in seine
Heimat zurück, nach Galiläa.
Und kaum, dass er einen Schritt über
die Grenze seines Ortes Nazareth
gesetzt hat, ist das Gerede
da. Die Luft ist zum
Schneiden, so sehr
ist man auf ihn
gespannt.
Die Synagoge ist der Ort,
an dem Jesus Farbe bekennt.
Doch zunächst steht er auf,
nimmt das Buch in seine
Hand, liest vor.
Ein Ausschnitt aus
dem Buch Jesaja ist es,
den er im Anschluss
auszulegen hat. Und Jesus
tut das, nachdem sich alle
gesetzt haben und darauf
gespannt sind, was er
ihnen zu sagen hat.
Jesaja sagt:
Der Geist des Herrn ruht
auf mir, denn er hat mich
gesalbt. Er hat mich gesandt.
Zu den Armen.
Zu den Gefangenen.
Zu den Blinden.
Zu den Zerschlagenen.
Jesus sagt:
Der, von dem hier die
Rede ist, das bin ich.
Ich und kein anderer.
Ich kann mir sehr gut
vorstellen, dass es dabei
manchem die Sprache
verschlagen hat. Schließlich
kennt man ihn doch nur
allzu gut, den eigenen
Sohn der Stadt,
den Sohn des
Zimmermanns.
Die Reaktion folgt
auf dem Fuß. Nur ein
wenig später wird man
erfahren, dass sie ihn
die Stadt hinaustreiben
werden. Ihn am liebsten
den Berg hinabstürzen
wollen.
Was Jesus zu sagen
hat, erscheint anmaßend,
überzogen.
Dabei wurde er nur kurz
zuvor von Gott selbst
bestätigt. Bei seiner
eigenen Taufe unter
einem offenen Himmel.
Das starke Selbstbewusstsein
Jesu kommt nicht aus ihm
selbst hervor. Es kommt
von Gott, in ihm allein
findet er diese Stärke,
sich zu behaupten.
Für viele ist das zu
viel des Guten und das, was
Jesus für sich in Anspruch
nimmt, einfach nicht
hinnehmbar:
Dass er der Retter sei.
Dass er der Befreier sei.
Dass er der Messias sei.
Dass er der Heiland sei.
Dass er der Erlöser sei.
Denn nichts anderes steckt
ja hinter diesem ins Wort
gebrachte Programm:
Ich bin gesandt,
damit ich den Armen die
frohe Botschaft bringe,
den Gefangenen die
Entlassung verkünde,
die Blinden sehend mache,
den Zerschlagenen
Freiheit bringe.
Woran stoßen sie sich
eigentlich, die Leute aus
Nazareth? Was lässt sie
so außer sich sein?
Ich kann es nicht
sagen.
Vielleicht ahnen,
dass sie in der Vergangenheit
schon zu vielen Blendern
auf den Leim gegangen
sind und eine weitere Enttäuschung
keiner mehr von
ihnen ertragen
könnte.
Das aber ist nur
eine Hypothese, auf die
es jetzt weniger ankommt.
Spannender erscheint mir
das Programm, das Jesus
offenlegt und mit dem er
unter den Menschen
auftritt.
Wer Jesu Weg mitverfolgt
und mit ihn zu den Menschen
geht, der kann erleben,
wie er dieses Programm
umsetzt. Wie Worte
zu konkreten Taten
werden und dass dem
tatsächlich so ist,
dass Menschen wieder
zurück ins Leben
finden:
Arme,
Gefangene,
Blinde,
Zerschlagene.
Jesu Programm ist
für sie gemacht. Für sie
ist er gekommen, um sie
herauszuholen aus
dem Unzumutbaren,
dem Absurden,
dem Sinnlosen,
und dem Falschen,
dem Verzerrten,
dem Nichtssagenden,
dem Verstrickten,
und dem Verrat,
der Demütigung,
dem Krankmachenden,
der Lüge,
und der Schuld,
der Inkonsequenz,
der Widersprüchlichkeit,
der Unwahrhaftigkeit,
und der Richtungslosigkeit.
Mit diesem Programm
Jesu bezieht Gott selbst
Stellung zum Menschen
und seiner oftmals so
tragischen Existenz.
Damals wie heute.
Wer sind die, die
sich gegen ein solches
Programm der Befreiung
in unserer Zeit auflehnen
könnten?
Manchmal Mittäter
krankmachender Zustände
und die Seele zerstörender
Systeme, von denen
unsere Kirche eins
darstellt.
Manchmal Nutznießer
unterdrückender Missstände
und ausbeutender Interessen und
Egoismen, wie sie auch in unserer
Kirche vorzufinden sind.
Manchmal Blinde, blind
für die knallharten Wirklichkeiten,
in denen Leben stattfinden muss
und nicht sollte. Wie sie auch
unter den Verantwortlichen
in unserer Kirche zu finden
sind.
Und wir?
Die Vorstellung ist reizvoll,
selbst unter den Menschen in
der Synagoge den ganz eigenen
Platz einzunehmen und
Jesus zuzuhören.
Wie würden wir auf sein
Wort reagieren?
Was würde uns von dem,
was er zu sagen hat, ansprechen?
Wodurch würden wir uns
herausfordern lassen?
Zu welchem Tun?
Zu welchem Neuanfang?
Zu welcher Umstellung des
eigenen Lebens?
Vielleicht könnten unsere
Überlegungen diesbezüglich
in eine Richtung laufen,
wie sie Dietrich Bonhoeffer
aufweist, wenn er schreibt:
„Gott will das Leben und er
gibt dem Leben eine Gestalt,
in der es leben kann, weil es
sich selbst überlassen sich nur
vernichten kann.
Diese Gestalt stellt das Leben
aber zugleich in den Dienst
anderen Lebens und der
Welt.“
Hier schließt sich dann
möglicherweise wieder
der Kreis und wir sind
bei dem angekommen,
wie Jesus selbst sein
Leben verstanden hat:
als ein in den Dienst
anderen Lebens und
der Welt gestelltes
Leben.
Was für ein Programm!
Ein wahres Lebensprogramm!
Ein Programm, das etliche
Vertreter unserer Kirche
schon lange vergessen
haben.
Ich schäme mich
für sie und große Bereiche
dieser Institution,
die dabei ist immer
mehr den Boden
des Evangeliums zu
verlassen und immer weniger
das zu schützen, was zu schützen
Gottes ureigenstes Anliegen
von Anfang an gewesen war
und in Zukunft auch bleiben
wird: der Mensch.
Beten wir für all die,
die sich im Dickicht
der Machenschaften und
Intrigen, der Unglaubwürdigkeit
und Lüge, der Perversion
und der Widersprüchlichkeit
verloren haben,
vor allem - beten wir für die
Menschen, die ihnen hilflos
ausgeliefert waren und
möglichweise noch
immer sind.
Und bitten wir Gott auch
für uns selbst, dass wir
gestärkt aus dieser Krise,
in der unsere Kirche
steckt, hervorgehen
können.